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Wie lassen sich Nutzer*innen in China gezielter segmentieren?

In Gesprächen mit Kunden, die Nutzerforschung in China betreiben möchten, fällt uns immer wieder auf: Sie greifen häufig auf klassische demografische Kriterien wie Alter, Geschlecht und Wohnort zurück. Doch innerhalb der jungen chinesischen Konsumkultur setzt sich zunehmend ein ganz anderer Zugang durch – eine Segmentierung auf Basis von psychologischer Identifikation und Persönlichkeitsmerkmalen.

Diese Entwicklung ist kein kurzfristiger Trend, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels: Menschen definieren sich immer weniger über gesellschaftliche Labels und immer mehr über ihren psychischen Zustand.

Die folgenden Geschichten zeigen, warum klassische Zielgruppeneinteilungen in der heutigen Gesellschaft zunehmend an Aussagekraft verlieren.

 

Geschichte 1: Die 90-jährige Kommilitonin, die sich nie alt fühlte

Ich besuchte einen Abendkurs über europäische Philosophie in Deutschland. Neben mir saß eine über 90-jährige deutsche Studentin. Ich fragte sie:

„Sie haben viel mehr Lebenserfahrung als die meisten anderen – wie hat das Ihr Selbstbild verändert?“

Sie dachte kurz nach und sagte lächelnd:

„Man fühlt sich immer wie derselbe.“

Ich fragte nach: „Meinen Sie damit, dass Sie sich immer noch wie in einem bestimmten Lebensabschnitt fühlen – zum Beispiel in Ihren Dreißigern?“

Sie antwortete: „Genau. Nur wenn mir der Rücken wehtut, merke ich, dass ich alt bin.“

Das erinnerte mich an Gespräche mit vielen über 50-Jährigen (unabhängig von ihrer Herkunft), die mir sagten: „Ich fühle mich eigentlich noch wie 30.“

Jüngere Menschen unter 50 berichten oft, dass sie sich etwa zehn Jahre jünger fühlen als ihr biologisches Alter.

Meine Gedanke: Psychologisches Alter und biologisches Alter gehen oft weit auseinander. Wird eine Zielgruppe rein nach Lebensjahren segmentiert, verliert man womöglich den Zugang zu ihrem inneren Zustand.

 

Geschichte 2: Warum müssen Veranstaltungen nach Alter oder Geschlecht filtern?

Ich nutze gerne die App Meetup, um Events in Städten zu entdecken. Jeder kann dort ein Treffen organisieren – etwa eine Wanderung am Wochenende – und andere Interessierte klicken einfach auf „Teilnehmen“. 

Vor Kurzem installierte ich eine ähnliche deutsche App. Zu meinem Erstaunen: Fast alle Eventveranstalter setzen dort Altersgrenzen.

Mit 38 werde ich oft automatisch ausgeschlossen – selbst bei kulturellen Veranstaltungen.

 

Ich fragte mich:

Warum sollte jemand, der Fremde zu einer gemeinsamen Museumsführung einlädt, das Alter oder Geschlecht einschränken?

Kann das biologische Alter oder Geschlecht wirklich verlässlich Aufschluss darüber geben, wie offen, tiefgründig oder freundlich ein Mensch im Austausch ist?

Was zählt wirklich, wenn wir nach Gleichgesinnten suchen?

 

Geschichte 3: MBTI – die neue Sozialsprache in China

In China erfreut sich das MBTI-Modell (Myers-Briggs Type Indicator) großer Beliebtheit – besonders bei jungen Menschen. Die Persönlichkeitsklassifikation basiert auf vier Dimensionen:

 - I/E (Introvertiert / Extravertiert)    

- N/S (Intuition / Sensorik)  

- T/F (Denken / Fühlen)   

- J/P (Planend / Wahrnehmend)

 

Obwohl MBTI in Fachkreisen als wissenschaftlich umstritten gilt, hat es sich in China zu einer sozialen Sprache entwickelt. Es ist ganz normal zu sagen:

„Ich bin INFP“ oder „Bist du ein E- oder ein I-Typ?“

Das ist weniger Test, sondern vielmehr eine Form psychologischer Zugehörigkeit und Identifikation.

 

Geschichte 4: MBTI als Grundlage für Eventdesign

Eine Kollegin von mir war kürzlich auf einer großen Messe in China. Sie berichtete von einem Detail, das mich überraschte:

Die Veranstalter hatten die Besucherrouten nach MBTI-Typen gestaltet.

- F-Typen (fühlende Persönlichkeiten) wurden zu interaktiven Bereichen mit Fotospots für Social Media geleitet.

- T-Typen (denkende Persönlichkeiten) erhielten eine Route mit Fokus auf wissenschaftliche Inhalte und Technologie.

 

In diesem Moment wurde mir klar:

Das ist mehr als User Experience Design – das ist raumgestützte Empathie, basierend auf psychologischen Profilen.

 

Und vor allem: Diese Segmentierung schließt niemanden aus.

Es gibt keine versteckten biologischen Urteile wie „zu alt“ oder „passt nicht zum Zielpublikum“.

 

Egal ob alt oder jung, Frau oder Mann, egal ob urban oder ländlich – jede*r findet seinen Platz innerhalb des MBTI-Systems, wird gesehen, akzeptiert und erhält passende Angebote.

Und genau dieses „gesehen und verstanden werden“ zählt zu den tiefsten psychologischen Grundbedürfnissen des Menschen.

Was mich besonders fasziniert: Menschen sind stolz auf ihren MBTI-Typ.

Diese positive Selbstidentifikation stärkt nicht nur das Gemeinschaftsgefühl – sie erhöht auch die Markentreue gegenüber Angeboten, die den eigenen Typ gezielt ansprechen.

 

Business Insight: Verstehst du wirklich, „wer ich bin“?

Die Struktur von Nutzeridentität in China wandelt sich – weg von klassischen Identitätsmerkmalen (z.B. aus dem Ausweis), hin zu psychologischen Zuständen und Selbsteinschätzungen.

Wir spüren diesen Wandel in vielen unserer Nutzerinterviews.

Und aus unternehmerischer Sicht gilt: Wenn eine Marke es nicht schafft, das Gefühl zu vermitteln „Das ist für mich gemacht“, wird sie keine nachhaltige Verbindung aufbauen können.

Unsere Empfehlungen für Produkt- und Forschungsteams, die den chinesischen Markt erschließen möchten:

  1. Verwendet psychografische Profile statt rein demografischer Daten, um Nutzer*innen nach Motivationen, Denkstilen und Zugehörigkeit zu verstehen.
  2. Integriert MBTI oder ähnliche Persönlichkeitsschemata in eure Fragebögen oder Interviewleitfäden, um emotionale Entscheidungsmechanismen zu erfassen.
  3. Schafft das Gefühl des „Gesehen-Werdens“ – durch Sprache, Raumgestaltung, Interaktionen und Content, die den psychologischen Zustand des Gegenübers ansprechen.

Das ist keine Modeerscheinung – sondern eine Voraussetzung, um im dynamischen und vielfältigen chinesischen Markt psychologisch durchdringend zu kommunizieren.

Denn: Wenn jeder Mensch spürt, dass es für ihn einen Platz gibt, entsteht wahre Bindung.

Autor: Yue Liu 

Spiegel Institut begleitet die Entwicklung mit UX und Nutzerforschung.
Wir bleiben nicht bei den geäußerten Wünschen der Konsumenten stehen, sondern gehen tiefer, um die tatsächlichen Bedürfnisse zu verstehen. Unsere cross-functional Teams – bestehend aus Function Ownern, Designern und User Researchern – arbeiten eng zusammen, um unseren Kunden ganzheitliche Lösungen zu bieten. info@spiegel-institut.de

 

 

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